Miriam in Morton

Ein Jahr Schüleraustausch - meine Erlebnisse im immergrünen Washington State

„Der frühe Vogel fängt den Wurm“ dachte ich mir und bewarb mich gerade noch passend für 10 Monate Amerika, um den Regionenwunsch in Anspruch nehmen zu dürfen. Arizona, Utah, Nevada, Oregon, Washington State - hörte sich doch ganz gut an, ich wollte ja eh so weit weg von Deutschland wie möglich, allein des Abenteuers wegen. Als dann im Februar die Nachricht kam, ich hätte eine Gastfamilie in Washington State, war ich zuerst überrascht, da ich längst noch nicht mit dieser Nachricht gerechnet hatte. Trotzdem freute ich mich zu hören, dass die Gasteltern noch ziemlich jung waren, mit 28 und 29 Jahren, und dass ich eine Gastschwester aus Schweden bekommen würde. So wäre ich anfangs zumindest nicht auf mich allein gestellt und hätte jemanden in meinem Alter in derselben Situation.

Die Dinge kamen jedoch etwas anders als geplant: Todmüde und erschöpft, aber auch glücklich nach den wahnsinnig aufregenden Tagen in New York beim Orientation Camp, stieg ich in Portland aus dem Flugzeug und sah vor mir meine Gasteltern und eine Chinesin. Sollte die nicht aus Schweden sein? Aber ich sagte erstmal nichts und ließ die Willkommenswünsche und Fragen auf mich einprasseln. Später erfuhr ich dann, dass dies keineswegs Linnea, meine Gastschwester, war, sondern ein Mädchen, das mich in den ersten Tagen begleiten sollte, da Linnea erst ein paar Tage später kommen würde. Der erste Eindruck der Landschaft war überwältigend. Washington State - the Evergreen State - was ich sah, machte seinem Namen alle Ehre. Morton, das für amerikanische Verhältnisse nicht weit von dem Ort entfernt liegt, an dem Twilight gedreht wurde, ist ein kleines, beschauliches Dorf zwischen Mount St. Helens und Mount Rainier, eingeschlossen von riesigen Bergen.

Dass es so klein war und meine High School nur 210 Schüler hatte (Junior High eingeschlossen), machte das Freunde finden allerdings ziemlich einfach. Mein erster Schulbesuch war noch vor Schulbeginn und alle wussten schon, dass ich kommen würde. Natürlich entwickelten sich die „wahren“ Freundschaften erst später, aber trotzdem nahmen mich alle ohne Vorurteile auf, als wäre ich schon immer dort gewesen. In der Schulzeit lernte ich die teilweise witzigen Regeln in amerikanischen Schulen kennen, inklusive verbotener Umarmungen und Hall Passes für den Toilettenbesuch. Ich lernte von Tag zu Tag mehr für die Region gebräuchliche Begriffe und die Umgangssprache, sodass ich mein Lexikon nach zwei Monaten für den Rest der Zeit beiseite legen konnte.

Nachmittags spielte ich erst Volleyball, im Winter Basketball und war schließlich erfolgreicher Teilnehmer des Leichtathletik Teams. Die sportlichen Aktivitäten waren an meiner kleinen Schule zwar ziemlich begrenzt, jedoch zählte der Einzelne deswegen umso mehr und meine kleinen Erfolge als Volleyball- und Basketballanfänger waren umso bedeutender für mich. Ich kann nicht leugnen, dass die Teilnahme an einem Sportteam mehr als anstrengend ist, da man 2-3 Stunden jeden Tag nach der Schule damit verbringt und die Anwesenheit, sobald man sich dazu entschlossen hat, verpflichtend ist. Allerdings gibt es meiner Meinung nach nichts besseres als „extracurricular activities“, um die Menschen besser kennenzulernen und wirklich dauerhafte Freunde zu finden.

Jeden Tag nach dem Training wurden Linnea und ich nach Hause gefahren und hatten dann Zeit für unsere Gasteltern, Freunde und widerstrebend auch für Hausaufgaben. Meine Gasteltern, Jack und Kristine, waren für mich mehr Freunde als Eltern, vergleichbar mit WG-Mitbewohnern. In unserem Haus gingen die Leute aus und ein, da sie alle kannten und mochten. Ab und zu, wenn man seine Ruhe wollte, störte das schon, aber die Art einfach vorbeizuschauen gehört einfach zum amerikanischen Denken dazu. Mit meinen Gasteltern habe ich insofern einfach viel, viel Glück gehabt, da sie uns aufgenommen haben wie einen gleichwertigen Teil der Familie. Ihr Grund, Gastschüler aufzunehmen, war übrigens, dass sie mal ausprobieren wollten, wie es ist Kinder zu haben, und weil sie zu der Art Menschen gehören, die gerne viel Gesellschaft haben.

Höhepunkte meines Aufenthaltes sind in großer Zahl vertreten. Angefangen bei den Wochenendtrips, die meine Gasteltern mit uns unternahmen. Zu Linneas und meinen unbedingten Zielen gehörten „nur“ die beiden Vulkane Mt. St. Helens und Mt. Rainier, sowie mindestens einmal Seattle zu sehen. Als nach einem Monat diese Ziele abgehakt waren und wir schon nicht mehr wussten, was es noch Sehenswertes gab, weihten uns Freunde und Gasteltern in die Kultur des Bowlings, Kinos, der Shoppingmalls und Diners ein, die man ihrer Ansicht nach nicht genug besuchen kann. Es blieb eigentlich kein Wochenende ohne spontane Aktionen oder Ausflüge, was sich in der zweiten Hälfte meines Aufenthaltes etwas legte. Sonstige Ausflüge ergaben sich durch meine Mitgliedschaft im Biology Club oder Knowledge Bowl Team, mit denen ich z.B. nach Oregon oder die andere Seite Washingtons fuhr. Auch die Bälle wie Homecoming, Tolo und Prom werden mir immer in Erinnerung bleiben. Nicht nur, dass man einmal im Leben wie eine Prinzessin aussehen darf, sondern auch das traditionelle Abgeholtwerden vom jeweiligen Ballpartner und das Krönen des Ballkönigs etc. sind wie ein Märchen aus einem amerikanischen High School Film.

Absoluter Höhepunkt, obwohl er mit dem Aufenthalt nur wenig zu tun hat, ist und bleibt der „kleine“ zweiwöchige Trip nach Hawaii mitten in der Schulzeit. Meine Gastfamilie und eine weitere Familie hatten das schon geplant gehabt und für Linnea und mich noch zwei Tickets nachgebucht. Es sollte auf zwei verschiedene Inseln gehen und am Ende hatten wir noch 12 Stunden Zeit in Honolulu, als wir auf den Rückflug warteten. Die nächsten zwei Wochen bestanden also aus 30° C bereits um 8 Uhr morgens, Delfinen, Walen, Vulkanen, schwarzem, rotem und gelbem Sand, Schnorcheln bei Nacht mit bis zu 8 m breiten Mantarochen, Kanufahren, Schildkröten, bunten Fischen, Pearl Harbor und vielem mehr.

Jetzt beim Schreiben dieses Berichts fällt mir erst auf, wieviele Dinge mir in Erinnerung geblieben sind, sodass es mir fast leid tut, hier nicht alle aufschreiben zu können. Der Aufenthalt was insgesamt eine unglaublich wichtige Erfahrung für mich, auch wenn einem dort ab und zu die rosarote Brille abgenommen wird - doch das gehört zur Lebenserfahrung dazu und bringt einen (wenn auch nicht immer direkt für einen ersichtlich) immens viel! Nicht einmal hauptsächlich für die Englischkenntnisse war es ideal, sondern eher auf einer menschlichen und kulturellen Ebene. Jedenfalls halte ich auch jetzt, nach anderthalb Jahren, noch Kontakt mit den wichtigsten Menschen dort und habe auch keine Zweifel daran, dass ich sie mal wiedersehen werde. Insofern ist und bleibt der Auslandsaufenthalt - vor allem in Form eines Schüleraustauschs - sofern man es wagt, ein nie endendes Abenteuer!