Alexandra in Arrecifes

Traut euch!

Wenn man mich vor gut 1 ½ Jahren gefragt hat, was ich über Argentinien weiß, so war meine Antwort, dass man dort viel Fleisch esse. Klar, die argentinischen Steakhäuser kennt doch jeder. Aber welche Sprache spricht man da noch mal? Und Wo liegt das überhaupt? – Erdkunde war noch nie meine Stärke, aber für Sprachen habe ich mich doch interessiert, und ganz besonders für unbekannte Kulturen. Und so kam es, dass ich mich für ein Auslandsjahr in Argentinien entschied, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was mich erwartete.

Was mich erwartete, war atemberaubend. Ein Land, das mich bis heute nicht mehr loslässt, Menschen, die mein Herz im Sturm eroberten, und eines der ereignisreichsten, lehrreichsten und schönsten Jahre meines Lebens. Die Frage nach der Landessprache war schnell beantwortet – Google, und einige sehr kluge Menschen gaben mir den Tipp, es mit Spanisch zu versuchen. Argentinien hatte schon jetzt den ersten Pluspunkt gesammelt, und so ging meine Erforschungsreise weiter. Einige Bücher, Internetseiten und Gespräche später war mir Argentinien, bevor ich es überhaupt kennengelernt hatte, mehr als sympathisch. Argentinien hat, trotz einer fast achtmal größeren Fläche, nur halb so viele Einwohner wie Deutschland. Damit ist es ein extrem dünn besiedeltes Land. Die Chance auf einen Bauernhof zu kommen, war somit ziemlich groß, zumal ein Großteil der argentinischen Bevölkerung Land besitzt oder auf dem Land wohnt. Neben diesen Fakten las ich auch einen Text über den berühmten „Mate Tee“, der zu jeder Gelegenheit mit Freunden und Familie getrunken wird, sowie die große Naturvielfalt in die ich mich begeben würde. Ein Land, dass sich über alle Klimazonen erstreckt, von tropischen Temperaturen im Norden (Achtung: Südhalbkugel!) bis zum ewigen Eis im Süden. Dabei hatte ich mir immer vorgestellt, in Argentinien sei es warm und ich käme vollkommen braun gebrannt nach Hause. Dem wäre wohl nicht so.

Obwohl meine Eltern ihre Bedenken äußerten und erst durch intensive Gespräche mit Mitarbeitern von verschiedenen Organisationen überzeugt werden mussten, dass ihre Tochter in einem südamerikanischen Land nicht abhanden kommen würde, habe ich mich letztendlich bei into beworben. Alle Papiere ausgefüllt, am Vorbereitungsseminar teilgenommen und dann auf eine Gastfamilie gewartet. Zwei Wochen vor Abflug stand diese dann endlich fest und ich sollte in eine Kleinstadt namens Pergamino kommen, die ca. zwei Stunden Busfahrt von Buenos Aires entfernt liegt. Und so machte ich mich am 25. Juli auf in ein Abenteuer mit ungewissem Ziel. Ich hatte eine Familie, dessen Namen ich kannte, aber nicht mehr. Ich hatte ein paar Informationen über das Land – aber nicht mehr. Ich hatte keine Sprachkenntnisse. Und meine bis dahin fast größte Angst: Ich hatte keine Flugerfahrung. Mein erster Flug sollte also ein 12 Stunden Flug ins Unbekannte sein. Mein Traum wurde endlich Wahrheit und meine einzige Frage, als ich die Boeing bestieg war „Wieso tust du dir das nochmal an?“. In dem Moment hatte ich keine Antwort - jetzt schon.

Mein eigentliches Jahr in Argentinien war sehr turbulent. Mit vielen Höhen und Tiefen. Es wäre gelogen, zu behaupten, ich hätte immer nur Spaß gehabt, denn es gab auch viele traurige Momente, mit denen man auf einmal komplett alleine klarkommen musste. Ich habe insgesamt zweimal die Familie gewechselt – also habe ich mit drei verschiedenen Familien gelebt. Der Wechsel war nicht immer leicht. Ich konnte weder die Sprache, noch verstand ich diese fremde Kultur und so fällt verbale Kommunikation in den ersten Monaten fast vollkommen weg – Keine Leichtigkeit für jemanden mit einem eher ausgeprägten Mitteilungsdrang. Aber genau diese Dinge, die zunächst negativ erschienen, haben dieses Jahr so besonders gemacht. Ich lernte eine komplett fremde und neue Sprache, die ich nun fließend beherrsche und tatsächlich lieben gelernt habe. Ich habe viele verschiedene Menschen kennengelernt, die Stadt gewechselt und dadurch meinen Freundeskreis erweitert.

Wenn man mich fragt, was mich so an Argentinien fasziniert, so würde ich wohl vor allem die Menschen sagen. Latinos, so sagt man, sind warmherzige und sehr offene, teilweise überschwängliche Menschen. Aber nicht nur das trifft auf diese zu. Sie sind vor allem unheimlich unkompliziert und spontan. Planen ist überhaupt nicht ihr Ding, lieber zwei Minuten vorher Bescheid sagen, als fünf Tage im Voraus planen. Freundschaften sind sehr weit gefächert und jeder noch so ferne Bekannte wird mit einem einladenden Kuss auf die Wange begrüßt. Außerdem scheint das Leben in Argentinien eine einzige große Party zu sein. So stehen in einem Buch über sechs Seiten staatlich anerkannte Feiertage eingetragen. Den 15. Geburtstag der Mädchen kann man sich in etwa wie eine „Sweet Sixteen“ Party in den USA vorstellen und zum Feiern geht man frühestens um zwei Uhr morgens los – Logisch, vorher hat man meistens noch nichts geplant, oder eine ausgiebige Siesta geschlafen. Des Weiteren ist ihr Interesse in fremde Kulturen unermesslich – selbst nach neun Monaten wurde ich immer noch mit Fragen über die deutsche Kultur, Geschichte, Politik und Gesellschaft gelöchert. Kein Themengebiet blieb unbearbeitet. Und so kam es, dass ich nach einer Woche von acht Jugendlichen umgeben war, denen ich versuchte per Zeichensprache, Wörterbuch und Zeichnungen, dass deutsche Schulsystem zu erklären. Argentinier haben natürlich auch ein paar für uns eher argwöhnische Gewohnheiten, so musste ich feststellen, dass viele sehr abergläubisch sind und dementsprechend bestimmte Rituale vollziehen: Die Computeruhr küssen, sobald sie 12:12 anzeigt; Salz über die Schulter streuen, sobald der Mate Tee Becher durch mehr als zwei Hände gereicht wurde usw. – Es gibt etliche Beispiele, die mich alle immer wieder verwundern. Ein weiterer Aspekt ist der sehr ausgeprägte Glaube, so kann ich nun das Ave Maria auswendig und fehlerfrei auf Spanisch, allerdings nicht auf Deutsch, da dieses zehn mal vor jedem Schultag vor gehisster Flagge für alle Kontinente gebetet wurde. Ich könnte wahrscheinlich seitenlang über diese Kultur referieren, da in einem Jahr zu viele Eindrücke gesammelt werden, um sie alle in Kurzform wiederzugeben.

Abschließend kann ich nur endlich meine Frage beantworten „Wieso tust du dir das nochmal an?“ Ich habe mir dieses Jahr angetan, weil es eine enorme Bereicherung für mein Leben und meine Persönlichkeit war. Ich habe unheimlich viel über die Kultur und die Menschen und eine weitere Sprache gelernt, aber das Wichtigste: Ich habe viel über mich selber erfahren und angefangen Dinge in Deutschland zu schätzen und zu hinterfragen, die mir vorher niemals aufgefallen sind. Ich habe immer noch stetigen Kontakt zu meinen Gastfamilien und Freunden, und werde meine sechswöchigen Sommerferien für einen Besuch dieser nutzen. Vielleicht möchte ich nach der Schule ein freiwilliges soziales Jahr in Lateinamerika machen, und dort studieren. Außerdem arbeite ich weiterhin für meine Austauschorganisation und bereite neue Austauschschüler auf ihr Auslandjahr vor. Eins steht für mich fest: Wer einmal über den Tellerrand geschaut hat und ein Jahr die Chance hatte im Ausland zu leben, der wird so schnell von seinem Fernweh nicht geheilt.