„Welcome to America!“, höre ich den Amerikaner neben mir sagen. Nach neun Stunden Flug lässt sich durch das kleine Fenster im Flugzeug endlich mehr als nur das endlose Blau des Atlantiks erahnen. Die Küste ist zu sehen. Häuser, die aus der Entfernung winzig erscheinen. Und Straßen, viele Straßen mit unzähligen Autos…
Ja… „Welcome to America“, ich bin wieder Zuhause. Ich lehne mich zurück und denke an den Tag vor fast drei Jahren im August, als mich meine Gastfamilie am Flughafen zum ersten Mal in den Arm nahm. Was habe ich gefühlt, woran dachte ich damals? Ich lächle. Ich erinnere mich an meine Angst, ja, schon beinahe Panik nach der Landung in Norfolk, Virginia. „Ich werde 10 Monate hier verbringen? Unmöglich!“, dachte ich mir leise. Dabei hatte ich das Flugzeug noch gar nicht verlassen. Unglaublich aufgeregt war ich. Werden sie mich mögen? Werde ich mit meinen Gastgeschwistern klarkommen? Vielleicht werden sie mich gar nicht verstehen können… Und die Schule? Komme ich damit klar? Es gab so viele Fragen… so viel, was noch auf mich zukommen würde. Und das mulmige Gefühl im Bauch wollte einfach nicht weggehen… „Vielleicht ist es doch besser, wenn ich zurück zum Flugzeug gehe…“, sagte ich mir. Doch die Vorfreude überwog, und ich nahm den „schweren“ Weg auf mich…
Norfolk, Virginia, drei Jahre später. Erneut verlasse ich das Flugzeug. Aber diesmal ist alles anders. Keine Spur von Angst, Zweifeln, Unsicherheit. Ich kann es kaum erwarten sie wieder zu sehen, nur noch wenige Meter trennen mich von meiner Familie. Schon kann ich sie sehen, ich winke. Freudestrahlend laufen sie, trotz Absperrung, los und umarmen mich. „Welcome Miriam!“, flüstert meine Mom mir ins Ohr, und auch sie hat kleine Freudentränen in den Augen. Ich bin wieder Zuhause.
Viel zu schnell sind die 10 Monate damals vergangen. Viel habe ich gelernt, viel gelacht, viele Freunde fürs Leben gefunden. Das ängstliche Mädchen, das damals nicht so wirklich das Flugzeug verlassen wollte, war verschwunden. „You have grown in so many ways“, hörte ich von meinen Gasteltern, bevor ich wieder nach Deutschland zurückkehrte. Vieles hatte sich verändert, bereut habe ich die Entscheidung, ein Jahr als Austauschschülerin in den Staaten zu verbringen, aber nie. Wenn ich an die Zeit vor dem Austausch denke, ist mein einziger Gedanke: Es ist alles so schnell gegangen! Kaum hatte ich mich bei meiner Austauschorganisation angemeldet und den Berg von Bewerbungsformularen abgeschickt, bekam ich schon den Anruf, dass man eine Familie in Virginia Beach, Virginia, für mich gefunden hatte. Ein unbeschreibliches Gefühl! Lachend lief ich in den darauf folgenden Wochen umher, freute mich über jede neue E-Mail, die ich von meinen Gasteltern erhielt, und wollte immer mehr über sie erfahren. Den E-Mails folgten unzählige Anrufe, bei denen mein Herz jedes Mal vor Aufregung stehenzubleiben drohte. Nichtsdestotrotz… das war nun meine neue Familie, und ich begann die Tage zu zählen, bis ich mein neues Heim betreten konnte. Es fühlte sich wie ein irrealer Traum an: meine Familie und Freunde verlassen, um ein Jahr in einem fremden Land bei fremden Menschen zu verbringen? Ganz allein als 16-jähriges Mädchen? Aber sicher doch!
Virginia Beach, Virginia, drei Jahre später. Die einstündige, aber sehr lustige Fahrt vom Flughafen geht zu Ende. Ich steige aus und fühle mich, als wäre ich nie weggewesen: Die Hunde stürmen auf mich zu und begrüßen mich, genauso wie meine Gastgeschwister. Ein wunderschönes Abendessen beginnt; das Erzählen scheint kein Ende zu haben und dauert bis tief in die Nacht… Ich hatte so vieles vermisst, aber die Zeit bleibt trotz der vielen Ereignisse unvergesslich. Bei meinem ersten Abendessen in meiner Gastfamilie fühlte ich mich tatsächlich noch wie ein Gast, aber das änderte sich schnell. Die herzliche Art meiner Mom und meines Dad war einfach beeindruckend. Ich hab mich oft gewundert wie sie mich, ein fremdes Mädchen aus Deutschland, so einfach in ihr Herz schließen konnten. Seltsamerweise fühlte es sich zur selben Zeit an als würde ich meine neue Familie schon ewig kennen, und ich kann mich glücklich schätzen für ihre ständige Unterstützung und Hilfe. Der erste Schultag, die ersten schwierigen Hausaufgaben, Geburtstage und Feiertage wurden zusammen überstanden und gefeiert, und ehe ich mich versah war schon das erste halbe Jahr vorbei. Langsam kam es mir so vor, als würde das Jahr ewig dauern, ich konnte es mir nicht mehr vorstellen nach Deutschland zurückzukehren. Das war immer so weit weg, also erfreute ich mich an jedem neuen spannenden Schultag, an den Ausflügen mit meinen neu gewonnenen Freunden, dem Spielen mit meinen neuen Haustieren und der Zeit mit meinen Gasteltern. Es gab immer so viel Neues zu entdecken, viele Geschichten zu erzählen, Neues über sich selbst zu lernen… Sportereignisse, Schulbälle, Prüfungen vergingen, und schon war der Sommer wieder gekommen. Und eine neue Frage kam auf: „Wie kann ich nun meine neuen Freunde und Familie verlassen, und was ist nun mein richtiges Zuhause?“ Die Antwort ist simpel: Ich habe nun zwei Familien und es gibt immer ein Wiedersehen.
Der Tag des Abschieds kam, so irreal mir auch dieser erschienen war. Zurück in Deutschland wurde mir nach und nach bewusst, wie sehr ich mich verändert hatte. Ich hatte nicht nur die Sprache gelernt, sondern viel mehr auch die Denkweise und Kultur eines anderen Landes, sowie viel über mich selbst und meine Fähigkeiten. Nun kam mir mein Auslandsaufenthalt immer mehr wie ein Traum vor, aus dem ich gerade aufgewacht war. Mit dem Unterschied: Es war kein Traum, denn nun sitze ich, zwei Jahre später, wieder zwischen meiner Mom und meinem Dad beim Abendessen und freue mich, dass ich als kleines, verunsichertes Mädchen diesen nicht immer einfachen Weg gegangen war und diese unglaublichen Erfahrungen machen durfte.